
Am Donnerstag, dem 16.04.20, verbreitete sich in Raum Pforzheim und dem Enzkreis die Nachricht, dass bei einem großen lebensmittelverarbeiteten Betrieb bereits 90 Mitarbeitende positiv auf das neuartige SARS-CoV-2 Virus, allgemein bekannt als Coronavirus, getestet wurden.
Dieser Betrieb stellte sich im Laufe als die bekannte Birkenfelder Firma Müller Fleisch heraus.
Seit Bekanntwerden des Infektionsausbruchs haben sich bis zum heutigen Tag über 300 Mitarbeiter*innen als infiziert herausgestellt. Der gesamte Betrieb wurde unter Quarantäne gestellt, nicht oder noch nicht positiv getestete Mitarbeiter dürfen ihre Wohnungen nur für den Gang zum Arbeitsplatz verlassen.
Trauriger Höhepunkt ist die Verlegung von positiv getesteten Mitarbeitern in das Hohenwart-Forum sowie das Queens Hotel in Niefern, um sie dort umfassend unter Quarantäne zu stellen.
Bei den betroffenen Mitarbeitern des Unternehmens handelt es sich überwiegend um Leiharbeiter aus dem osteuropäischen Raum, die in Pforzheim und Umgebung in Sammelunterkünften untergebracht sind.
Die bislang getroffenen Maßnahmen werden sowohl von den beteiligten Stäben der Stadt Pforzheim als auch des Enzkreises als Erfolg bewertet, insbesondere da in den Gemeinschaftsunterkünften eine wirkungsvolle Isolation der Menschen, die positiv getestet wurden oder corona-typische Symptome zeigen, von anderen gesunden Bewohnern nur schwer gewährleistet werden könne, so die Leiterin des Gesundheitsamts, Dr. Brigitte Joggerst.
Die geäußerte bisherige Kritik an den hygienischen Verhältnissen und dem mangelhaften Krisenmanagement der Firma ist unseres Erachtens daher berechtigt, stellt aber nur einen Teilaspekt dieser Krise dar.
Es handelt ich sich nämlich nicht um die erste Ausnahmesituation im Zusammenhang mit Werkvertrags- und Leiharbeitskonstruktionen bei der Firma Müller Fleisch.
Der Skandal im Jahr 2013 um die unbezahlten ungarischen Leiharbeiter, die aufgrund einer extrem verschachtelten Vertragssituation mit mehreren ungarischen Subunternehmern in Deutschland zu ungarischen Leiharbeitertarifen produzierten und dann um ihren verdienten Lohn betrogen wurden, ist noch sehr präsent. Hier wies die Firma Müller Fleisch die Verantwortung mit Verweis auf die vertragliche Vereinbarung mit der ungarischen Leiharbeitsfirma von sich. Erst nach öffentlichem Druck kam es zu einer Lösungssuche.
Dieser Ausbruch kann daher nicht dem Zufall geschuldet sein, sondern ist Teil einer grundsätzlich moralisch fragwürdigen Personalpolitik der Firma Müller Fleisch, die sich zwar im Rahmen des gesetzlich Erlaubten bewegt, aber dennoch Fragen aufwirft, die bislang weder von der Geschäftsleitung umfassend erläutert wurden noch von der Stadt Pforzheim oder dem Landratsamt des Enzkreises öffentlich hinterfragt wurden.
- Wie kommt es dazu, dass erst 90 Mitarbeiter positiv getestet werden mussten, um in die Öffentlichkeit zu gehen und erst dann umfassende Maßnahmen zu ergreifen?
- Warum wurden nicht bereits bei den ersten auftretenden Symptomen sofort Maßnahmen eingeleitet? In welchem Vertragsverhältnis stehen die betroffenen Mitarbeiter? Haben diese Mitarbeiter unter Umständen ihre Symptome in Angst um ihren Arbeitsplatz verschwiegen, da sie nicht in den Genuss und den Schutz der deutschen Arbeitsgesetzgebung kämen, sondern Arbeitsplatzverlust und fehlende Lohnfortzahlung fürchten müssen?
- Weshalb wurde, trotz der um sich greifenden Pandemie, den bekannten Abstandsregularien und der Tatsache, das es sich hier um einen lebensmittelverarbeitenden Betrieb handelt, nicht sofort daran gearbeitet, die Wohnverhältnisse der Arbeitnehmer in den Sammelunterkünften so zu gestalten, das diese eben nicht in den beschriebenen „beengten Unterkünften“ leben müssen und sich so zusätzlichem Risiko auszusetzen?
- Weshalb wird der Betrieb nicht sofort geschlossen und eine umfassende Untersuchung eingeleitet, inwiefern dieser verheerende Ausbruch hätte verhindert werden können? Die Systemrelevanz des Betriebes sollte unter diesen Umständen momentan absolut angezweifelt werden!
Dieses wieder einmal skandalöse Geschäftsgebaren der Firma Müller Fleisch zeigt klar auf, das im Sinne der Profiterwirtschaftung und Profitsteigerung alle Register gezogen werden, die im erlaubten Bereich liegen. Die Leidtragenden dieses Gebarens sind einmal mehr die Schutz- und Wehrlosesten unseres Arbeitsmarktes, allerdings fällt dieses verantwortungslose Verhalten aufgrund der Pandemie dieses Mal auf die gesamte Bevölkerung zurück, insbesondere im Raum Pforzheim/Enzkreis sowie den angrenzenden Landkreisen.
Geradezu zynisch erscheint in diesem Zusammenhang das Lob an die Deutsch-Rumänische Gesellschaft in Pforzheim, die laut dem Ersten Bürgermeister der Stadt Pforzheim, Dirk Büscher, an vielen Stellen wohl hilfreich war, „durch Übersetzer oder durch Kontakte in die Community hinein.“
Hilfreich wäre, die rumänischen Mitbürger und Mitarbeiter umfassend über ihre Rechte als Bürger und Arbeitnehmer in Deutschland zu unterrichten, hilfreich wäre ein Eintreten gegen staatenübergreifende Leiharbeits- und Werkverträge zum Zwecke von Lohndumping und zur Umgehung arbeitsrechtlicher Hemmnisse. Sich für eine unterstützende Tätigkeit nach Ausbruch einer Pandemie aufgrund der beschriebenen Zustände loben zu lassen, sollte eher nachdenklich stimmen.
Wir fordern daher nicht nur
- volle Aufklärung der Vorgänge bei der Firma Müller Fleisch durch die Behörden
- schnelle und unbürokratische Unterstützung der betroffenen Mitarbeiter, auch bei den nicht optimalen Wohnverhältnissen
- die vorübergehende Schließung des Werks und hier ebenso finanzielle Hilfen für die betroffenen Mitarbeiter
sondern ebenso, insbesondere der Ausbruch der Pandemie hat dies offensichtlich gemacht
- ein klares Verbot eines Beschäftigungsmodells mit Leiharbeitern aus dem Ausland, das einen solchen Ausbruch wie bereits erläutert aufgrund von Angst um den Arbeitsplatz Vorschub leistete
- ein generelles Umdenken bei der Gesetzgebung im Zusammenhang mit Leiharbeit und Werkverträgen
- eine europaweite Harmonisierung von Beschäftigungsverhältnissen und Entlohnung zur Bekämpfung von Lohndumping und prekärer Beschäftigung
- Solidarität statt Spaltung!