Rojava, die E.U. und unsere Werte

11. Oktober 2019  Allgemein

Unser Mitglied Azad Soranî hat bei der heutigen Demonstration und Kundgebung zu den Angriffen der Türkei auf Rojava eine Rede gehalten, in der er klar Stellung bezieht: Unsere Werte müssen über politischen und ökonomischen Interessen stehen. Sonst sind diese Werte nichts wert.

Hier der vollständige Text der Rede:

»Manche sagen, dass die EU bzw. Deutschland als Teil der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft ihre eigenen Werte verrät, indem sie zu Erdogans Angriffskrieg schweigt und diesen nur scheinheilig verurteilt, ohne jegliche Konsequenzen daraus zu ziehen. So wird es höchstwahrscheinlich passieren.

Aber diese Werte werden bereits mit jeder Genehmigung weiterer Waffenlieferungen durch die Bundesregierung nicht nur an die Türkei, sondern auch an die Kopf-ab-Diktatur Saudi-Arabiens verraten.

Die eigenen Werte werden verraten, an jedem Tag, an dem der unsägliche Flüchtlingsdeal mit der Türkei weiterhin gilt. Sie werden immer dann verraten, wenn Millionen und Milliarden Euro an den Diktator Erdogan fließen.

Der Verrat wiederholt sich jedes Mal, wenn unsere Bundesregierung die Türkei als einen wichtigen Partner bezeichnet. Ich sage nein, Mörder können niemals unsere Partner sein.

Islamisten dürfen niemals unverzichtbar sein. Ein Diktator darf niemals ein Verbündeter sein. Ein Barbar darf niemals unser Handelspartner sein, auch wenn unsere Wirtschaft davon negativ beeinflusst werden sollte. Untergehen wird man durch kurzfristig geringere Profite nicht.

Die eigenen WERTE müssen über politischen und ökonomischen Interessen stehen. Sonst sind diese Werte gar nichts wert.

Es ist leider eine traurige Wahrheit. Unsere Befürchtungen, dass der Despot aus Ankara nun einen neuen Krieg gegen die Kurden beginnen will, ist Wirklichkeit geworden.

Sie waren staatenlos, hatten keine Bürgerrechte, sind in einem Land aufgewachsen, in dem sie Bürger 3. Klasse waren. Dann kam der Krieg, der IS wurde immer größer, auch und vor allem dank Erdogan, der ihn nachweißlich mit Waffen und Geld – aber auch mit kostenloser medizinischer Behandlung in türkischen Krankenhäusern versorgte.

Sie kämpften jahrelang und erbittert gegen diese riesige und mörderische Armee. Obwohl zunächst kaum internationale Unterstützung kam und die Türkei ganz offen den Nachschub von Waffen, Medizin und logistischer Unterstützung für die YPG blockierte, schafften sie in Kobanî, den Anfang vom Ende des sogenannten Kalifats einzuleiten.

Sie waren es, die dort als Bodentruppe den meisten Blutzoll zahlten. Sie waren es, die in Rojava, im Norden Syriens eine basisdemokratische Verwaltungsstruktur aufbauen konnten.

Sie waren es, die die dortige Autonomie auf Basis des Grundgedankens der Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen, zwischen den verschiedenen religiösen Gruppen – den Christen, Alewiten, Yesiden und Muslimen schufen.

Dies zeigt sich durch die Einführung der Parität, wo Frauen auf jeder Führungsebene mindestens zu 50% vertreten sein müssen. Die YPG war es, die es ermöglichte, dass die verschiedenen ethnischen Gruppen dort friedlich miteinander leben konnten.

Die ehrenhaften Kämpfer der YPG waren es, die bis in den Irak vormarschierten, zu Fuß und mit einfachen Transportmitteln, um die Yesiden im Shingal-Gebirge vor den mordenden IS-Terroristen zu beschützen, die wiederrum, wie oben schon erwähnt, u.a. durch Erdogan getrieben wurden.

Diese YPG soll nun einfach fallen gelassen werden, weil Trump aus taktischen Gründen oder schierer Dummheit einfach kein Interesse mehr daran hat, die Kurden zu unterstützen.

Nur zur Erinnerung, die YPG hat den größten Anteil daran, dass der IS überhaupt geschlagen werden konnte. Sie haben die Terrorbande, die die ganze Welt bedrohte, zurückgeschlagen, auch wenn sie noch teilweise Schläferzellen betreibt, die durch die Angriffe aus Ankara jetzt nach und nach aus ihren Löchern kriechen, wie sich schon am Mittwoch leider gezeigt hat.

Sie waren eine der wenigen Milizen, die, so wie wir es nennen und uns damit schmücken wollen, unsere „westlichen“ Werte verteidigt haben und die auf dieser Grundlage auch ein Autonomiegebiet errichteten.

Wenn sie fallen, dann wird nicht nur der IS wieder erstarken, sondern auch alle anderen islamistischen Mörderbanden, allen voran jene, die heute noch von der Türkei unterstützt werden und auch mit ihnen jetzt in Syrien einmarschieren.

Dies heißt für alle, die sich diesen Terrorgruppen nicht beugen werden, nichts anderes als Unterdrückung. Für all jene, die sich der rückständigen Interpretationsweise des Korans nicht in der Weise anpassen, wie Salafisten, Wahhabiten, Muslimbruder es sich vorstellen, bedeutet es Tod, Massaker, Genozid und noch mehr Repression und Unfreiheit.

Wohlgemerkt, andere Religionen werden per se tabu sein. Und nur, um eine gewisse Zeit eventuell weniger Flüchtlinge zu aufnehmen zu müssen, die nach Europa kommen wollen, schauen die EU und Deutschland bei allen diesen Dingen weg.

1915 warnten deutsche Diplomaten den damaligen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, dass das osmanische Reich bzw. die türkische Führung, die Armenier komplett vernichten wollte.

Seine Antwort war leider genau die Parallele zu dem, was wir heute erleben, nur drückt sie sich nicht offen so aus. In der Praxis ist das Ergebnis dasselbe. Seine Antwort auf die drohenden Massaker, die mit dem ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an den Armeniern endete, war folgende:

„Unser einziges Ziel ist, die Türken bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht. Bei länger andauerndem Kriege werden wir die Türken noch sehr brauchen.“

Deshalb appellieren wir an die deutsche Bundesregierung, nicht zu schweigen und nicht nur Lippenbekenntnisse von sich zu geben, sondern Konsequenzen folgen zu lassen.

So wie das Wegschauen beim Völkermord an den Armeniern ein Schandfleck unserer Geschichte geworden ist, darf es keinen erneuten Schandfleck geben, der sich in unseren Geschichtsbüchern verewigen wird.

Hoch lebe die internationale Solidarität! Kein Krieg gegen die Bevölkerung in Rojava! Hoch lebe der kurdische Widerstand und der Widerstand aller anderen Volksgruppen gegen die Allmachtsphantasien aus Ankara!«